Vor etwas mehr als 25 Jahren, an einem düsteren Mittwochabend im März 1992, bricht Carlos Aguilera aus Versehen eine Lawine los. Oder, anders: Der Uruguayer in Diensten des Genoa Cricket and Football Club schießt ein Tor. Ein historisches Tor, es sichert seiner Mannschaft immerhin den 2:1 Sieg beim FC Liverpool und macht CFC Genua damit zum ersten italienischen Klub, der aus der Anfield Road einen Sieg entführen kann. Was ohne die mitgereisten Fans an diesem düsteren Mittwochabend im März 1992 wohl nicht möglich gewesen wäre.
Denn obwohl sie zahlenmäßig dem englischen Publikum hoffnungslos unterlegen sind, sorgen die Tifosi für ungeheuerlichen Radau – und rasten nach dem Tor ihres Starstürmers endgültig aus. Was die Fans des FC Liverpool dermaßen beeindruckt, dass sie den italienischen Anhängern nach dem Spiel applaudieren. Was uns wiederum zur Lawine führt. Denn eine Woche später, Genua spielt in der Serie A zu Hause im Stadio Luigi Ferraris, beginnen die Fans auf der legendären „Curva Nord“ plötzlich zu singen. Sie singen einen Song, den sie bei ihrer Europapokal-Schlacht in Liverpool aufgeschnappt hatten. Er heißt „You’ll Never Walk Alone“. Die Lawine, die Carlos Aguilera mit seinem Tor in Liverpool losgebrochen hatte, sie ist in Italien angekommen.
Sie haben die Lawine überlebt
Seit diesen Wochen im März 1992 singen sie also auch in Genua die mittlerweile berühmteste Stadionhymne der Welt, lange hing dazu ein großes Banner mit dem Songtitel über dem Block der Ultras. Doch was fast als Tradition durchgegangen wäre, ist bald schon wieder vorbei. Das Lied wird in Zukunft nicht mehr gesungen werden, das Banner wurde schon am Samstag beim Spiel gegen Juventus Turin durch ein „ULTRA GENOA C.F.C. 1893“-Banner ersetzt. Die Begründung: Man wolle sich lieber etwas suchen, was den Verein und die eigenen Fans besser repräsentiere als eine geklaute Hymne. Schließlich habe der Verein, 1893 von Mitarbeitern des britischen Konsulats in Genua gegründet, eine eigene Geschichte. Sie hätten auch sagen können: Wir haben die Lawine überlebt.
Dabei ist gegen den Song als solchen nicht viel einzuwenden. In seiner ursprünglichen Fassung war er 1909 für ein Bühnenstück geschrieben worden, in den Vierzigern tauchte er plötzlich am Broadway auf, das Stück „Carousel“ wurde wiederum zehn Jahre später verfilmt – so dass ihn der Liverpooler Garry Marsden im Kino aufschnappte, um ihm in seiner Version als Sänger von Gerry & The Pacemakers zum Hit zu machen. Als er mit seiner Band 1963 den Song im Stadion vom FC Liverpool live spielen durfte, stimmten die Anhänger der „Reds“ sofort mit ein – immerhin stand das Lied derzeit auf Platz eins der Charts. Danach verselbstständigte sich die Geschichte, seitdem singen die Fans sich und ihrer Mannschaft mit dem Song Mut zu, besonders laut und inbrünstig immer dann, wenn es brenzlich (CL-Finale 2005) oder sehr, sehr traurig (Hillsborough) wird.
Mainz, Dortmund, Hamburg, Brügge, Glasgow – Überall läuft der Song
In anderen Städten singen andere Fans das Lied dagegen einfach so. Obwohl es weder in Dortmund, noch in Brügge, in Hamburg oder in Mainz einen wirklichen Bezug dazu gibt. In Dortmund wird von Teilen der Fans zwar versucht, einen solchen zu konstruieren (angeblich geht das Singen auf eine Fan-Freundschaft zu den Celtics zurück, die die Hymne wiederum in den Sechzigern bei Liverpool abgestaubt hatten), eine echte Verbindung, wie sie zumindest in Genua bestand, gibt es aber nicht.
Und trotzdem schallt der Song im Ruhrgebiet – in der Plastik-Cover-Version der Band „Pur Harmony“ – seit mehr als 20 Jahren durchs Stadion, in Mainz ließ der Stadionsprecher „YNWA“ 2005 zum ersten Mal laufen. Einfach so. In Liverpool funktioniert der Song ja schließlich auch. Was natürlich damit zusammenhängt, dass Stadt und Lied verwachsen sind wie siamesische Zwillinge. Doch dass sich dieser Grad der Verwandtschaft nicht einfach kopieren lässt, haben sie – wenn auch spät und trotz der logischsten Adaption – bisher nur in Genua kapiert.
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