Arsene Wenger, Ihr Team blieb 2003/2004 satte 49 Spiele lang ohne Niederlage. Der Kader schien perfekt zusammengestellt. In Ihrer Autobiografie schreiben Sie, dass die Fähigkeit, ein Team zu basteln und Spieler einzuschätzen, aus Ihrer Kindheit im Bistro Ihrer Eltern La Croix d’Or rührt. Warum?
Das Bistro war eher ein kleines Wirtshaus in einem Dorf, in dem es hauptsächlich nur Bauernfamilien und Pferde gab. Die Bauern kamen vom Feld und tranken ihr Feierabendbier in unserem Bistro. Meine Heimat war sehr religiös geprägt, also gingen die Einwohner am Sonntag zur Messe und kehrten danach bei uns ein, nur um über Fußball zu reden. Jeden Donnerstag wurde die Aufstellung des Lokalvereins bei uns lange debattiert und dann entschieden. Ich hing an den Lippen der Spieler und Trainer, wenn sie sich stritten und manchmal aufeinander losgingen. Fußball war das alles bestimmende Thema. Also muss ich unterbewusst gespürt haben, dass dieses Spiel eine übergeordnete Bedeutung im Leben haben musste. Nach diesem Motto sollte ich daraufhin mein ganzes Leben ausrichten.
Sie schreiben in Ihrem Buch: „Den Männern zuzuhören vermittelte mir Kraft und einen untrüglichen Instinkt.“ Also bildeten diese Beobachtungen das Fundament für Ihre spätere Karriere als Trainer?
Mir war immer klar, wie sehr ich Trainer werden wollte, aber mir blieb zunächst die Wurzel für diesen starken inneren Wunsch verborgen. Erst später realisierte ich, wie allgegenwärtig der Fußball in meiner frühen Kindheit erschien. Außerdem war unser Heimatklub nicht gerade erfolgreich, was den Sieg noch kostbarer erschienen ließ und meinen Hunger für dieses Siegesgefühl noch verstärkte. Und weil ich nun mal religiös erzogen wurde, kombinierte ich die Religion und den Fußball. Ich las das Buch der Messe während der Spiele. Als ich zehn Jahre alt war, betete ich zu Gott, damit er meinem Klub im Spiel hilft.
Das hat Ihnen vielleicht später geholfen, als Uniteds Stürmer Ruud van Nistelrooy einen Elfmeter gegen Arsenal an die Latte schoss – und Ihr Team auf diese Weise unbesiegt blieb.
(Lächelt.) Vielleicht. Aber ich habe herausgefunden, dass gute Spieler mehr helfen als lange Gebete.
Haben Sie sich an etwas Bestimmtes aus der Kindheit im Bistro zurück erinnert, als Sie Arsenals „Invincibles“ (die Unbesiegbaren) zusammen stellten?
Meine Kindheit im Bistro beeinflusste mich in dreierlei Hinsicht. Zuerst einmal entstand dort meine bis heute anhaltende Leidenschaft für diesen Sport. Zweitens hatte ich keinen Trainer bis zu meinem 19. Lebensjahr, was mir vermittelte, wie wichtig im Leben und im Fußball eine Figur ist, zu der man aufschaut. Und drittens: Durch die vielen unterschiedlichen Persönlichkeiten im Wirtshaus entwickelte auch ich einen liberalen Geist. Ich war aufgeschlossen gegenüber neuen Einflüssen und gegenüber allen Spielern – ganz egal woher sie stammten. Als ich in England das Traineramt übernahm, spielten dort fast nur Einheimische. Das „Invincible“-Team bestand dann aber aus Spielern aus der ganzen Welt, es wurde das multikulturellste Team der damaligen Zeit. Doch es reicht nicht, gute Spieler zu haben. Du musst als Trainer eine Identität entwickeln, für die die Mannschaft bereit ist einzustehen. Deine Werte müssen die Spieler mittragen.
„Habe keine Angst davor, sehr viel von deinen Spielern zu verlangen!“
Die Journalistin Amy Lawrence schrieb in ihrem tollen Buch über die Mannschaft von den „United Nations of Arsenal“. Wie haben Sie es geschafft, dass sich innerhalb der Mannschaft aus den unterschiedlichen Nationalitäten keine Cliquen bildeten?
Ich gebe Ihnen Recht, diese Gefahr bestand durchaus. Der Mensch ist so gestrickt, dass er sich immer mit denjenigen zusammen tut, die ihm ähneln, die die gleiche Sprache sprechen oder die gleiche Nationalität haben. Bei Arsenal haben sich die Franzosen natürlich zusammen an einen Tisch gesetzt. Wenn aber ein Engländer dazu kam, sind sie vom Französischen ins Englische gewechselt. Wichtig ist, dass die Kulturen nicht verschwinden, sondern sich mischen. Mich hat immer der Gedanke getragen, dass die unterschiedliche Herkunft irrelevant wird, sobald sich alle hinter einer Idee versammeln. Ein Trainer muss dafür eine gemeinsame Kultur und Identität etablieren.
Doch wie haben Sie das konkret angestellt?
Meine Überzeugung war: Habe keine Angst davor, sehr viel von deinen Spielern zu verlangen! Verlange sogar das Unmögliche von ihnen! Im Leben brauchst du ein kurzfristiges und ein langfristiges Ziel. Ersteres unterstützt die Intensität der Motivation, also wie stark du ein Ziel verfolgst. Zweites unterstützt die Ausdauer der Motivation, also wie lange du daran festhältst. 2003 stellte ich mich vor die Presse und verkündete, dass wir Meister werden können – ohne ein einziges Spiel zu verlieren. Wir wurden nicht Meister und die Spieler waren wütend auf mich.
Ihr erfahrener Spieler Martin Keown sagte Ihnen, dass es Ihre Schuld gewesen sei, dass Arsenal nicht Meister wurde. Mit Ihrem Spruch hätten Sie zu viel Druck auf die Spieler ausgeübt. Hatten Sie nicht spätestens da echte Zweifel an Ihrem Ziel?
Vielleicht hatte Martin sogar Recht, die Spieler glaubten zu diesem Zeitpunkt noch nicht daran, dass wir tatsächlich unbesiegbar sein könnten. Und als Trainer bist du immer von Zweifeln geplagt. Doch ich rückte nicht von meinem Ziel ab, weil es für mich wie ein Lebenstraum war, den ich seit Beginn meiner Laufbahn hegte. Als Trainer musst du das Maximum aus deiner Mannschaft herausholen – und das ist nun einmal eine Saison ohne Niederlage. Außerdem fiel mir ein weiterer Aspekt im Laufe jener Saison auf: Der Gedanke an eine mögliche Niederlage kann ein Team hemmen. In dieser Saison 2003/04 ließen wir jenen Gedanken einfach nicht zu. Für uns existierte ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht einmal die Möglichkeit einer Niederlage. Die Angst war komplett verschwunden. Was blieb, war die pure Freude am Spiel. Noch heute kommt mir diese Serie von 49 Spielen ohne Niederlage vor wie das Logischste der Welt.
Wie haben Sie alle diese starken Persönlichkeiten im Team gezähmt? Sie hatten Spieler wie Thierry Henry, Sol Campbell…
…Lehmann, Ashley Cole – alle waren fordernde Charaktere. Diese Jungs besaßen in gleichem Maße Charisma und Demut.
Die Spieler selbst fürchteten, sich im Abschlusstraining zu verletzen, weil die Intensität so hoch war. Teilten Sie diese Befürchtung?
Nie. Ich hatte ein starkes Team mit einer guten Bank. Die Spieler agierten voller Hingabe, aber auch mit Respekt voreinander. Es lief nie aus dem Ruder, ich kann mich an keinen Ausfall erinnern. Ein Freund von mir arbeitete zu dieser Zeit beim französischen TV und ich lud ihn mal zu einem Training ein. Er war beeindruckt vom Charisma dieser Jungs, schon als sie morgens das Gelände betraten. Sie lehnten Durchschnittlichkeit mit jeder Faser ab – doch ohne dabei arrogant zu sein.
Robert Pires sagte: „Wir waren nicht arrogant, wir hielten uns nur für unbesiegbar.“
(Lacht.) Und Recht hatte er. Man United hatte damals fantastische Spieler, Chelsea unglaubliche Spieler. Doch wir verfügten gleichzeitig über Harmonie und Kampfgeist in der Truppe.
Doch es ging mitunter hart zu, beispielsweise als Kolo Toure sein Probetraining absolvierte. Welche Erinnerungen haben Sie daran?
Sie dürfen nicht vergessen, dass Kolo aus einer Schule meines Freundes Jean-Marc Guillou in der Elfenbeinküste stammte. Er war bei Probetrainings in Bastia, Genf oder Straßburg durchgefallen. Als ich ihm in Aussicht stellte, ihn zu verpflichten, war er zu allem bereit: auch jeden zu attackieren.
Zunächst foulte er Henry, dann Dennis Bergkamp, sodass beide lange auf dem Boden lagen. Die Spieler waren fassungslos, dann aber grätschte er selbst Sie um.
Ja, er tacklete uns, aber nicht aus Aggressivität, sondern aus Enthusiasmus. Er wollte unbedingt zeigen, was er drauf hat, und bei Arsenal bleiben. Ich musste zwar zum Arzt, aber meine Verletzung war nicht so schlimm. Ich habe Kolo direkt am nächsten Tag verpflichtet wegen seines Hungers, seiner Hingabe und seiner physischen Stärke. Er war ein Monster.
Sein Kollege in der Innenverteidigung Sol Campbell war ähnlich veranlagt…
…nein, er war noch härter. Wenn Sol dir auf den Fuß stieg, konntest du eine Woche lang nicht laufen, das kann ich Ihnen sagen.
„Ich weiß nicht, ob ich den Transfer von Sol Campbell noch mal machen würde“
Campbells Transfer war ebenfalls kontrovers, weil er vom großen Rivalen Tottenham zu Arsenal wechselte. In Ihrem Buch beschreiben Sie, wie Sie den Wechsel vorbereiteten: Sie trafen sich mit Campbell im Haus des stellvertretenden Vorsitzenden, allerdings nur nachts.
Oh ja. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich Sol der Presse vorstellte, hätte niemand auf der Welt diesen Transfer auch nur für möglich gehalten. Dieser Wechsel blieb geheim zwischen Sol, seinem Berater, unserem Vorsitzenden und mir. Das wäre heute undenkbar, weil viel zu viele Personen in einen Transfer involviert sind. Wir liefen nachts durch die Felder rund ums Haus und redeten lange. Für mich bestand kein großes Risiko, weil ich von seinen Stärken als Spieler überzeugt war. Doch für Sol war die Angelegenheit komplizierter, ihm sollte der blanke Hass entgegen schlagen.
Arsenals Spieler sollen ihn im Training ausgebuht haben, um ihn auf die feindselige Atmosphäre bei Spielen gegen Tottenham vorzubereiten.
Sie wollten ihm helfen und machten aber auch ihre Witzchen. Doch die Situation stellte sich für Sol wirklich unangenehm dar. Erst später hat er mir erzählt, dass er sich in London nicht mehr frei bewegen konnte und viele Restaurants meiden musste. Wenn ich so zurückblicke, weiß ich nicht, ob ich den Transfer heute noch mal so tätigen würde. Einfach weil ich weiß, welchen Schwierigkeiten Sol dadurch ausgesetzt wurde.
Der Kader der „Invincibles“ bestand nur aus 21 Spielern für vier Wettbewerbe. Wollten Sie ihn absichtlich so klein halten?
Ja, ich halte nichts von großen Kadern. Das wirkt sich negativ auf den Konkurrenzgedanken aus, zu viele Spieler sind dann außen vor. Die beste Kadergröße liegt zwischen 23 und 25. Wenn du aber 21 erfahrene Jungs hast, kann das auch reichen – wie wir bewiesen haben.
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